über die Kunst
GREGOR STEHLES KUNST ENTZIEHT SICH JEDER KLASSISCHEN KATEGORISIERUNG. SIE IST WEDER FIGURATIV NOCH ABS- TRAKT IM HERKÖMMLICHEN SINNE, SON- DERN EIN PROZESS DER RAUMBILDUNG DURCH BEZIEHUNG. STEHLE, GEPRÄGT DURCH EINE DREISIGJÄHRIGE ZEN-PRAXIS, ENTWICKELT SEINE MALEREI AUS EINEM ZUSTAND INNERER LEERE HERAUS. ERST WENN KEIN BILD MEHR IN SEINEM GEIST AUFTAUCHT / ERSCHEINT, BEGINNT DER MALERISCHE AKT – SPONTAN, DIREKT, OHNE KORREKTUR. SEINE ARBEITEN FOLGEN DEM VON IHM GEPRÄGTEN BEGRIFF DER ATTRAKTORALEN KUNST: EINZELNE FARBFELDER,FARBINSELN,LINIEN ODER STRICHE WIRKENWIEATTRAKTOREN,DIE SPANNUNGSFELDER ERZEUGEN, DIE DEN RAUM ERST HERVORBRINGEN. DER BILD- RAUM ENTSTEHT NICHT DURCH KOMPOSITION, SONDERN DURCH DAS BEZIEHUNGS- GEFLECHT DER ELEMENTE ZUEINANDER.

DAMIT KNÜPFT STEHLE AN PHILOSOPHISCHE DENKFIGURENWIE KANT,SLOTERDIJK, HEIDEGGER, POPPER ODER JULLIEN AN, EBENSO WIE AN ZEN-ÄSTHETIK UND ASIATISCHE MALEREI.KUNSTHISTORISCH STEHT SEIN WERK IN DER LINIE VON CAS- PAR DAVID FRIEDRICH ÜBER ARTE POVE- RA UND DEN EXPRESSIONISMUS, BIS ZU ROTHKO UND TWOMBLY – ABER OHNE DE- REN PATHOS. STATTDESSEN SCHAFFT ER MIT RADIKALER REDUKTION EINE KUNST DER ATMOSPHÄRISCHEN PRÄSENZ. SEINE BILDER SIND KEINE AUSSAGEN, SONDERN ERFAHRUNGEN. SIE SPRECHEN NICHT ÜBER DIE WELT, SONDERN LASSEN RAUM ENTSTEHEN. RAUM ALS BEZIEHUNG. UND BEZIEHUNG ALS KUNST.

Raum als Erregungsfeld. Was ist ein Bild? Was ist Raum? Und was bleibt, wenn beides sich auflöst? Die Malerei von Gregor Stehle ist eine radikale, fast provozierende Antwort auf diese Fragen. Sie ist kein Bild im klassischen Sinne, sondern eine Resonanzfläche, eine Störung, eine Präsenz. Die Arbeiten des Künstlers scheinen dem westlichen Kanon der Malerei auf eigensinnige Weise zu entwischen. Und doch sind sie ihm tief verpflichtet: Denn Stehle operiert mit den Werkzeugen des Denkens, der Reduktion und der Philosophie. Seine Kunst ist eine Philosophie mit anderen Mitteln, eine Phänomenologie des Spürens, ein Erforschen der Leere. Eine Spaziergang im Nichts. „Attraktorale Kunst“ nennt er seine Praxis – ein Kunstwort, das sich dem mathema- tischen Begriff des „Attraktors“ entlehnt und ihn gleichzeitig sprengt.
In seiner Welt entstehen Räume nicht durch Volumen, sondern durch Beziehung. Ein Punkt, eine Linie, eine Fläche – sie stehen nicht einfach auf der Leinwand. Sie machen das, was sie berühren, zu einem Bezie- hungsraum. Und sie machen damit die Malerei zu einem Ereignis, das Raum stiftet, wo zuvor nur Fläche war. Die Frage ist also nicht mehr, was Kunst darstellt, sondern was sie im Betrachter auslöst, in Bewe- gung setzt, öffnet. Stehles Bilder funktionieren wie Resonanzkörper für eine neue Art von Wahrnehmung – nicht objektiv, nicht psychologisch, sondern atmosphärisch,.Nicht narrativ, sondern situativ. Nicht metaphorisch, sondern real.
Das Unsichtbare sehen lernen. Die 10 Jahre, die Gregor Stehle in einem Zen-Kloster in Frankreich verbrachte, sind nicht biografische Fußnote, sondern Teil seines künstlerischen Denkens. Sie bilden das untergründi- ge Prinzip seiner Malerei. Zen ist keine Religion, sondern eine Form des radikalen Sehens. Der Geist wird geleert, nicht um leer zu sein, sondern um aufnahmefähig zu werden. In der Zen-Ästhetik – etwa in der Kalligra- fie oder dem Bogenschießen – ist das Ziel nicht die Perfektion, sondern die vollständige Präsenz im Moment des Tuns. Genau in dieser Haltung liegt der Ursprung von Stehles Arbeiten. Die Farbe, der Strich, der Fleck
die Darstellung, auf die unser ganzen abendländisches Denken fußt. Bei Stehle jedoch kehrt ein anderer Begriff zurück: das Wirken der Dinge jen- seits ihrer Form. Ihre Luzidität. ( Jullien) Eine Malerei, die nicht spricht, sondern klingt Die nicht erklärt, sondern anzieht.
– sie sind kein Ausdruck eines zuvor geplanten Konzepts. Sie entstehen aus einem Zustand absoluter Klarheit, in dem nichts mehr gewollt wird. Die Geste ist nicht kontrolliert, sondern wach. In der Praxis bedeutet das: Ein Bild beginnt für Stehle mit dem Aufhängen einer weißen Fläche – eine leere Leinwand, ein Papier, ein Grund. Dann folgt das Warten. Tage- oder wochenlang lebt er mit dieser präsenten Leere und entleert an Ihr. Bis der Impuls kommt. Nicht aus dem Willen, sondern aus dem Zustand. Dann – in wenigen Minuten – geschieht die Malerei. Ein Impuls, ein Akt, ein Satz. Und dann ist es vorbei. Diese Arbeitsweise widerspricht dem westlichen Konzept der Kunstproduktion fundamental. Sie ist nicht auf Dauer, Pro- duktion, nicht auf Korrektur, nicht auf Werkcharakter angelegt. Sie gleicht der japanischen Tuschzeichnung, bei der der erste Strich der einzig mög- liche ist – unwiederholbar. Was nicht gelingt, wird nicht verbessert. Es wird verworfen. Das Werk ist Spur. Oder mit Roland Barthes gesprochen: ein „Punktum“, das nicht zeigt, sondern trifft.
Kant, Sloterdijk, Popper, Heidegger, Jullien. In Stehles Werk wirken philosophische Linien, die seine Haltung zur Welt – und damit zur Kunst – prägen. Bei Kant ist Raum keine Eigenschaft der Welt, sondern eine Be- dingung der Anschauung. Raum ist etwas, das erst im Subjekt entsteht. Stehle führt diesen Gedanken weiter: Raum ist nicht nur eine Anschau- ungsform, sondern ein Erregungsfeld. Nicht nur das Subjekt konstituiert den Raum – auch die Dinge auf der Fläche tun es. Ein Strich kann Raum erzeugen. Eine Leerstelle kann ihn öffnen. Peter Sloterdijk denkt in seinen Sphärenbänden den Raum als Beziehungssphäre – als Blase, als Nest, als Mitsein. Diese Vorstellung lässt sich direkt auf Stehles Arbeiten anwen- den: Jedes Bild ist eine kleine Sphäre, ein Beziehungsraum zwischen Ele- menten, Farben, Materialien – aber auch zwischen Werk und Betrachter. Sloterdijks Begriff der „Ko-Existenz“ wird bei Stehle zur Ko-Komposition. Karl Popper wiederum unterscheidet zwischen der Welt der Dinge
Von der Astrophysik zur Ontologie der Fläche. Der Begriff „Attraktor“
(Welt 1), der Welt der mentalen Zustände (Welt 2) und der Welt der ob- jektiven Inhalte (Welt 3). Stehles Werke oszillieren genau zwischen die- sen Bereichen: Sie sind physisch da, psychologisch wirksam, aber zu- gleich Träger von Bedeutung, ohne zu deuten. Sie bewohnen Welt 3 ohne Sprache. In seinem berühmten Vortrag „Der Ursprung des Kunst- werkes“ (1935/36) spricht Martin Heidegger über den Raum, als etwas, das erst durch das Werk eröffnet wird. Das Kunstwerk schafft Raum,
es räumt, im Sinne von Raum geben. In diesem Sinne räumt Stehle dem Raum Raum ein. Er eröffnet durch sein Werk uns die Sicht in und auf den Raum. Das Heideggerische Existenzial des „in-der-Welt-sein-“ wird bei Stehle zu einem im-Raum-sein weitergedacht. Und schließlich François Jullien, der französische Sinologe, der die chinesische Landschaftsmale- rei als radikal andere Sehart beschreibt: Nicht der Blick erzeugt das Bild, sondern das Bild den Blick. Nicht der Ausschnitt, sondern das Sich-Ent- falten. Bei Stehle ist die Fläche nicht Fenster, sondern Horizont. Kein Bild- ausschnitt, sondern Raumprozess. Diese fünf Denker strukturieren nicht nur Stehles Denken. Sie sind – immanent– in jedem Bild präsent. Denn seine Bilder denken. Aber sie tun es ohne Worte stammt aus der Chaostheorie. Ein Attraktor ist ein Zustand, auf den ein dynamisches System zusteuert, ohne dass dieser Zustand selbst stabil
oder greifbar wäre. Stehle nimmt diesen Begriff auf, aber er transformiert ihn. In seinen Bildern wird der Attraktor zu einem Bildereignis: eine Fläche, ein Farbfeld, ein Kratzen, das andere Elemente auf sich bezieht, sie in Beziehung setzt. Nichts steht für sich. Alles wirkt aufeinander. Diese Logik ist nicht nur formaler Natur. Sie hat ontologische Tiefe. Denn sie verändert den Status des Bildes radikal: Die Malfläche ist kein neutraler
Träger mehr, sondern ein Feld von Anziehung und Spannung. Weite und Engung ( Hermann Schmitz) Die Linie ruft die Fläche. Der Fleck aktiviert die Leere. Der Strich erzeugt Raum. Und dieser Raum ist keine Illusion, sondern eine Erfahrung. Diese Denkweise verbindet Stehle mit der phä- nomenologischen Tradition – vor allem mit Hermann Schmitz, der den Begriff der „Atmosphäre“ nicht als psychologisches Gefühl, sondern als leiblich spürbare Realität versteht. In dieser Tradition ist ein Bild nicht ein Zeichen, sondern ein Ereignisfeld. Es zieht den Körper in seine Sphäre. Es erzeugt eine Stimmung, die nicht im Bild liegt, sondern zwischen Bild und Betrachter. In der westlichen Kunstgeschichte ist dieses Denken sel- ten geworden. Zu stark ist die Prägung durch das Sichtbare, das Abbild, Kunstgeschichtliche Linien und Brüche. Gregor Stehle steht in einer paradoxen Tradition: Er ist zugleich Nachfahre und Dissident der europäischen Malereigeschichte. Seine Kunst lässt sich nicht einordnen, aber rückblickend verorten: Er ist der deutschen Romantik verbunden – vor
allem Caspar David Friedrich. Nicht weil er Landschaften malt, sondern
weil er das Unsichtbare im Sichtbaren sucht. Wie Friedrich denkt er Malerei nicht als Darstellung, sondern als Kontemplation. Er ist ein Schüler der chinesischen Malerei, in der die Leere ebenso aktiv ist wie die Form, das Volle. In der das Weiße nicht
Hintergrund, sondern Atem ist. In der das Sehen selbst zur Übung wird. Er ist durch- drungen von der Art Brut – in der der Ausdruck nicht elaboriert, sondern roh ist. In der das Material nicht veredelt wird, sondern Widerstand bleibt. In der der Strich eine Spur ist, keine Geste. Er steht in der Nähe zur Arte Povera, in deren Arbeiten sich die Dinge selbst zeigen: unvermittelt, unglatt, unverfügbar. Stehles Mate- rialien – Wachsstift, Tape, Acryl – folgen keiner akademischen Hierarchie. Alles kann Träger des Impulses sein. Und schließlich ist er ein Nachfahre der amerikanischen Abstraktion – aber ohne deren Pathos. Wo bei Rothko das Transzendente aufgeladen ist, bleibt bei Stehle der Zustand offen. Wo bei Newman das Sublime droht, bleibt bei Stehle das Schweigen wach. Bildliche Erregungsfelder. Was bei Twombly noch eine Denkspur ist, wird bei Stehle zu einer Spur des Nicht-Denks. In den vorliegenden Wer- ken Gregor Stehles manifestieren sich all diese Prinzipien: Ein wuchernder dunkler Farbkörper auf Weiß – wie ein Windstoß auf einer Fläche, aus dem sich ein Vortex bildet. Nichts ist umrissen. Alles ist Präsenz. Die Farbe ist nicht Farbe, sondern Zustand. Eine Fläche, auf der sich lose Farbset- zungen verteilen – Rot, Blau, Gelb, Grün, Schwarz – wie Zeichen eines Systems, das keine Sprache hat. Die Felder stehen einzeln, aber sie ru- fen einander. Sie wollen nichts – sie sind. Und gerade dadurch sprechen sie. Eine Kreidezeichnung, zerfasert, zerkratzt, auf einer beigen Fläche – wie der Abdruck eines Denkens, das sich nicht artikuliert, sondern spürt. Nichts ist abgeschlossen. Alles ist Möglichkeit. Sie sind. Und sie fordern. Nicht weil sie laut sind, sondern weil sie sich entziehen.

Seine Bilder sind kein letzter Schrei, sondern ein erster Atemzug. Raum, der denkt. Gregor Stehle erlaubt dem Raum, Raum zu sein. Das klingt schlicht, ist aber eine fundamentale Provokation in einer Kunstwelt, die auf Bedeutung, Deutung, Inhalt ausgerichtet ist. Stehle stellt keine Fragen. Er stellt Zustände her. Seine Kunst ist nicht Aussage, sondern Haltung. Kein Objekt, sondern Prozess. In einer Zeit, in der Bilder schrill und bedeutungsschwer sein müssen, bietet seine Arbeit eine radikale Gegen-
position: Sie ist leer – aber voller Spannung. Still – aber voller Kraft. Reduziert – aber voller Welt. Vielleicht ist genau das der entscheidende Punkt:
Dass Gregor Stehles Malerei nicht erklären will. Sondern erleben lässt. Nicht repräsentiert, sondern resoniert. Nicht besetzt, sondern befreit.
Und vielleicht beginnt genau dort die Zukunft der Malerei.
Raum ist Beziehung. Und Beziehung ist die eigentliche Substanz der Welt. ( Quelle : Text: Carsten Lehmann 2024, München )

